Mein Vater war es sein Leben lang gewöhnt, nach Lust und Laune in der Weltgeschichte zu verreisen. Mit seinen knapp 85 Jahren ist er auch heute noch sehr aktiv und so überkam ihn durch die 3,5 monatige Corona-(Reise)Zwangspause eine überwältigende Langeweile. „Ich mache seit Wochen nichts anders als Spazierengehen – im Wald kenne ich mittlerweile jeden Baum!“ ließ er mich unlängst etwas genervt wissen.
Wenige Tage nach Wiederöffnung der EU Grenzen rief er mich an und meinte, jetzt sei der perfekte Zeitpunkt nach Venedig zu reisen. So leer wie zurzeit würde man die Stadt nie wieder erleben – und er aufgrund seines Alters schon gar nicht. „Wann fahren wir los?“ fragte er vollends entschlossen. Ein Nein kam offenbar gar nicht erst in Betracht.
Ich gebe zu, auch mich reizte die Vorstellung eines Tapetenwechsels ungemein.
Termine standen in der kommenden Woche keine an. Also checkte ich kurzerhand die möglichen Reiserouten und fragte spontan verschiedene Hotels in Österreich (Zwischenstopp) und Venedig an. Nach den neuerlichen Corona-Ausbrüchen in Gütersloh und Warendorf und damit einhergehenden Reisebeschränkungen wollte ich sicher gehen, dass wir – als Gäste aus NRW – bei Ankunft nicht gleich wieder nachhause geschickt würden.
Die Antworten ließen nicht lange auf sich warten („Wir freuen uns, Sie und Ihren Vater bei uns begrüßen zu dürfen…“) und so saßen wir wenige Tage später im Auto und fuhren los… vor uns lagen knapp 2.200km Asphalt und jede Menge wundervolle Erlebnisse.
Neben der ganzen Euphorie und Vorfreude auf Italien schlich sich offen gestanden irgendwann doch auch eine Portion Skepsis in mein Gedankenreich. Ist es schlau, ausgerechnet in diesem Jahr nach Italien zu reisen? Gerade der Norden war doch so schwer von Corona betroffen. Und dann auch noch mit meinem Vater, der aufgrund seines Alters der Risikogruppe angehört. Was erwartet uns vor Ort? Kann man denn bedenkenlos in den Restaurants essen gehen? Und ist die Klimaanlage im Hotel sicher?
Um es vorweg zu nehmen: Nessun problema! Kein Problem.
Die Autobahn gen Süden war praktisch leer und so erreichten wir trotz Ferienbeginn ohne größeres Verkehrsaufkommen am frühen Abend unser erstes Etappenziel Innsbruck. Aus der (neuen) Gewohnheit heraus setzen wir vor Betreten des Hotels ganz selbstverständlich unseren Mund-Nasenschutz auf, um dann festzustellen, dass Österreich die Maskenpflicht zum 01. Juli – also heute –bereits wieder abgeschafft hatte. Ein weiterer Schritt Richtung „Normalität“.
Am nächsten Morgen starteten wir recht früh los. Die schnellste Strecke wäre sicherlich via Autobahn über Bozen und Verona gewesen, aber mein Vater wollte reisen und so entschieden wir uns für eine etwas aufwändigere Tour über den Brenner und dann weiter auf der Strada Regionale 48 delle Dolomiti, quer durch die Dolomiten Südtirols bis nach Cortina d‘Ampezzo (Austragungsort der Olympischen Winterspiele 1956). „Ich bin die Strecke schon mal gefahren, damals in den 50ern, auf dem Weg nach Korsika. Zu dritt im VW Käfer, mit einem 2m-Zelt auf dem Dach“, so mein Vater. Sein Abenteuergeist war spürbar.
Unser Wagen war für die alte Passstraße nicht wirklich ausgelegt. Ich hoffte auf einen vollen Tank und gute Bremsen. Doch auch wenn wir natürlich viel länger brauchten als nötig, wäre jede andere Strecke tatsächlich schade gewesen, denn das Panorama hier war spektakulär!
Nicht umsonst gehören die Dolomiten (in Teilen) zum UNESCO Weltnaturerbe.
Sie wirken schroffer als die Westalpen, ragen aber nicht minder gebieterisch gen Himmel. Zu meiner Verwunderung kamen uns auf der Strecke jede Menge Radfahrer entgegen, lag der höchste Punkt doch bei über 2.000 Höhenmetern.
Auch wenn der Vergleich hinkt, aber mich erinnerte die Landschaft hier oben ein wenig an Schottland: üppig grüne Wiesen und schroffe Gebirgszüge. Doch als wir irgendwo auf der Strecke zum Mittagessen im „Ristorante Grill Da Strobel“ einkehrten, war klar, dass wir uns auf italienischem Boden befanden. Serviert wurden uns zwei typisch Tiroler Gerichte: Tagliatella al ragu di selvaggio (eine Art Bolognese vom Wild) sowie Schlutzkrapfen (ravioli tirolesi, also Ravioli nach Tiroler Art) gefüllt mit Spinat. Buono!
Ein letzter Blick auf die Bergwelt von Lagazuoi und die 5 Torri (im ersten Weltkrieg Schauplatz heftiger Kämpfe zwischen italienischen und österreichischen Alpentruppen – heutzutage ein beliebtes Freizeitgebiet für Kletterer, Wanderer und natürlich Skifahrer) und schon ging unsere Tour weiter durch das wunderschöne Veneto, bis wir schlussendlich ca. 2,5 Stunden später die Lagunenstadt Venedig erreichten.
Ich hatte mich bereits im Vorfeld in Sachen Parkmöglichkeit in/um Venedig erkundigt und so steuerten wir gleich das Venezia Tronchetto Parking am Hafen an. Von hier aus fährt man bequem mit dem „People Mover“, einer Standseilbahn, 2 Stationen bis zur Piazzale Roma (1,50€ p.P.).
(Anmerkung: es gibt auch gleich an der Piazzale Roma sowie am Bahnhof Parkhäuser, die mitunter vergünstigte Konditionen für Gäste ihrer Partnerhotels bieten. Die meisten rechnen allerdings je 24h ab, wofür man regulär gerne 30€ zahlt. Bleibt man bspw. 25h in der Stadt, zahlt man direkt für 2 Tage. Tronchetto hingegen nimmt 4€/Stunde und max. 21€/Tag).
Ebenfalls im Vorfeld der Reise hatte ich mir die App „AVM Venezia“ auf mein Handy geladen. Hierüber lassen sich entspannt die einzelnen Tarife für die Vaporetti (öffentliche Wasserbusse) ermitteln samt Fahrplanauskunft. Eine einfache Fahrt zum Markusplatz hätte 7,50€ gekostet und da wir die nächsten Tage viel vorhatten, und nicht jede Brücke Venedigs erlaufen wollten, entschieden wir uns für ein 48h Ticket (30€ p.P.). Wer die App nicht mag – die Tickets lassen sich natürlich auch problemlos an den Ticketschaltern gleich an den Anlegestellen kaufen.
In/auf den Wasserbussen (sowie auch bereits an den Anlegestellen und in allen anderen öffentlichen Einrichtungen) trägt man – wie bei uns – Maske. Und ja, die Italiener halten sich auch bei 30 Grad diszipliniert daran!
So schipperten wir gemütlich den Canal Grande entlang, vorbei an unzähligen Gebäuden, Terrassen und Gärten, die seit Jahrhunderten auf dem Wasser zu schweben scheinen. Mit meiner Handykamera versuchte ich diese Schönheit einzufangen, bis mich ein mahnendes „Halt dein Handy nicht aus dem Fenster, sonst fällt es noch ins Wasser!“ zurück pfiff. Nun ja, manche Dinge ändern sich eben nicht – egal wie alt man zwischenzeitig ist. 🙂
Eine halbe Stunde später erreichten wir die Haltestelle Giglio. Von hier aus liefen wir noch 3 Minuten durch die pittoresken Gassen bis zu unserem Hotel.
Gebucht hatte ich ein familiär geführtes Boutique-Hotel in historischem Gemäuer, nur unweit des Markusplatzes gelegen. Die Bewertungen waren gut, der Preis unschlagbar. Und eine wunderbare Dachterrasse mit herrlichem Blick über die Stadt machte die Entscheidung perfekt.
Hat man den Venezianern in den letzten Jahren gerne eine gewisse Hochnäsigkeit angelastet, so muss ich sagen, dass davon keine Spur zu finden war. Bei Ankunft im Hotel wurden wir äußerst gastfreundlich (aber nicht aufgesetzt) begrüßt – selbstredend, dass man in einer internationalen Stadt wie Venedig am Empfang deutsch spricht. Alternativ kommt man überall sonst problemlos mit englisch weiter.
Aber wie war das jetzt mit Corona?
Bis auf die Masken, das Desinfizieren der Zimmerschlüssel vor jeder Herausgabe an den Gast sowie die Bedienung am Frühstücksbuffet, die einem die gewünschte Auswahl auf einem Teller anreicht, gab es praktisch keinerlei Veränderung. Die Minibar auf dem Zimmer war gefüllt, dekorative Kissen lagen auf dem Bett und auch in den Bädern standen die üblichen „amenity kits“ (Seife, Duschgel, Shampoo etc) zur Nutzung bereit. Wohlfühlfaktor 100%.
Der Abend war noch jung und so machten wir uns gleich auf, um noch vor dem Essen die ersten Eindrücke zu sammeln. Mein Vater hatte sich bereits von Gianluca (Rezeption) mit Restaurantempfehlungen ausstatten lassen, fehlte nur noch die Location für den ersten Drink….
Was uns bereits zuvor auf der Fahrt über den Canal Grande aufgefallen war sowie auch auf den wenigen Hundertmetern vom Anleger zum Hotel: die Stadt ist merklich leer. Wo sich sonst Pulke von Touristen getummelt haben, ist eine angenehme Ruhe eingekehrt. Die einschlägigen Hotspots der Stadt sind besucht, aber nicht überlaufen. Anstehen Fehlanzeige. Auch Reservierungen sind momentan eher überflüssig. Und so entschieden wir uns tatsächlich für eines der Cafés auf dem Markusplatz – klar, dass ein Tisch in der ersten Reihe derzeit keinerlei Herausforderung darstellt… auf die Rechnung waren wir dennoch gespannt. Und siehe da: für einen Aperol Spritz und zwei Kugeln Eis zahlten wir lediglich 11€. „Special price“ aufgrund der neuerlichen Wiedereröffnung, ließ uns der livrierte Kellner wissen. Allora, molto grazie!
Der Empfehlung von Gianluca folgend, kehrten wir zum Abendessen in die „Trattoria da Cherubino“ ein, ein traditionelles italienisches Restaurant im Zentrum. Der Chef entschuldigte sich gleich dafür, dass er aktuell nicht alle Gerichte von der Karte anbieten könne. Das Gästeaufkommen sei momentan überschaubar, der Einkauf daher schwer zu planen. Also nahmen wir das, was er uns vorschlug: Tagliata vom Thunfisch und Wolfsbarsch mit Tomaten-Sugo. Ein Traum!
Am nächsten Tag ging unsere Citytour dann richtig los.
Vom Markusplatz samt Turm und Dom vorbei am Dogenpalast, über die Seufzerbrücke hin zum legendären Hotel Danieli (Schauplatz verschiedener Filme). Weiter zur Scala del Bovolo bis hin zum Mercato Rialto, dem ehemals wichtigsten Handelsplatz der Stadt samt gleichnamiger, wohl berühmtester Brücke Venedigs. Wir ließen nichts aus.
Und egal wohin wir liefen, es präsentierte sich überall das gleiche Bild: ausreichend Platz, um diese historischen Orte ungestört genießen zu können!
Trotz allem Positiven muss ich zugeben, mein Mitgefühl galt definitiv den vielen Gondolieri, die den ganzen Tag – in ihre Handys vertieft – die Zeit totschlagen und die wenigen vorbeischlendernden Touristen praktisch bitten, sie fahren zu dürfen…
Natürlich ist das aktuelle Geschäft für alle zu wenig, um davon leben zu können.
Einige Geschäfte sind geschlossen, manche Hotels wollen erst im kommenden Jahr wiedereröffnen. Doch egal mit wem man spricht, eines ist zwischen den Zeilen klar zu entnehmen: die Venezianer sind froh über die „touristische Verschnaufpause“.
Nach Jahren des Overtourism, der nicht zuletzt durch die Tausenden von Kreuzfahrttouristen zusätzlich gesteigert wurde, die wie die Heuschrecken täglich in die Stadt eingefallen waren, kann Venedig endlich aufatmen. Und bis das übliche Gewusel wieder losgeht, sollte man die Gelegenheit nutzen und die „Perle der Adria“ in ihrer Einzigartigkeit und Pracht wahrlich erleben!
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