An der Ostküste von Italiens Stiefelspitze Kalabrien befindet sich ein Dorf, was abgeschiedener nicht liegen – und malerischer nicht sein könnte. Gerace, völlig zu Recht Mitglied der Vereinigung der „schönsten Dörfer Italiens” („associazione borghi d’Italia”), blickt von einem Hügel aus über eine herrlich weite Landschaft und zieht seine Besucher und Besucherinnen direkt in seinen Bann. OLIMAR Produktmanagerin Viorica hat sich von Gerace an der Jasminküste des Ionischen Meeres verzaubern lassen. Hier kommt ihr Reisebericht.
Als ein bedeutender Teil der OLIMAR Mietwagenrundreise „Kostbarkeiten Kalabriens” war mir Gerace natürlich ein Begriff. Besucht hatte ich das Dorf allerdings noch nie. Umso gespannter war ich, was mich an diesem abgelegenen Ort Süditaliens erwarten würde.
Reist man von Locri aus über die kurvige Landstraße an, scheint es fast, als würde der Ort Gerace wie ein stolzer Raubvogel auf einem 500 Meter hohen Felsen hocken, der wachsam alles beäugt, was sich vom Meer aus in seine Richtung bewegt. Wen wundert es da, dass das Dorf Gerace seinen Namen dem griechischen Wort für den Raubvogel Sperber („Ièrax”) verdankt?
Nur allzu gut kann ich mir die Sarazenen vorstellen, die hier in dieser Gegend im 7. Jhd. n. Chr. die griechische Bevölkerung des antiken Locri Epizephiri überfielen und vor sich hertrieben. Angeführt von einem mythischen Sperber, fanden diese Zuflucht auf eben jenem 500 Meter hohen Felsplateau.
Aus der provisorischen Zufluchtsstätte wurde innerhalb kürzester Zeit eine der reichsten und mächtigsten Städte Kalabriens, mit Bischofssitz, unzähligen Kirchen sowie der Normannenburg von Ruggero II, die den Verkehr an der Küste kontrollierte und beste Handelsbeziehungen mit Byzanz und dem damaligen Königreich von Sizilien unterhielt.
Beeindruckende Sehenswürdigkeiten & ein Domplatz als Wohnzimmer
Historisch beeindruckend geht es auch in Gerace selbst weiter. Auf meinem Weg durch die steinernen, engen Gassen der Oberstadt lasse ich die Formen, Farben und Geräusche auf mich wirken. Gerace besteht nicht nur aus vielen Sehenswürdigkeiten, nein, das Dorf selbst ist eine Sehenswürdigkeit für sich. Hier steht der größte Dom Kalabriens, dessen Ausmaße mir erst bewusst werden, als ich von der Krypta aus in die dreischiffige Hallenbasilika hochsteige. 20 Säulen aus den griechischen Siedlungen von Locri wurden hier in bester Kreislaufwirtschaft-Manier wiederverwertet. Nur wenige Freskofragmente erinnern daran, dass einst der gesamte Innenraum von Malereien bedeckt war.
Der Domplatz ist nach bester süditalienischer Tradition das gemeinsame Wohnzimmer der Geracesi. Mir scheint, dass hier wirklich jeder jeden kennt. Man grüßt sich, steht zusammen und unterhält sich. Und stoppt auch schon mal kurz mit dem Auto mitten auf der Straße, um sich nach dem Befinden eines vorbeilaufenden Bekannten zu erkundigen – was in den engen Straßen unweigerlich zu einem kurzen Stau führt. Schlimm findet das keiner, gehupt oder geschimpft wird nicht. Was sind schon ein paar Minuten Warten gegen ein paar persönliche Worte?
Traditionelle Handwerkskunst & Bestes aus Bergamotten und Jasmin
Gerace trägt übrigens auch den Namen „Stadt der 100 Kirchen”, was mich nicht weiter wundert, denn hier steht wirklich an jeder Ecke eine Kirche. Fast alle von ihnen weisen noch byzantinische Merkmale auf, sei es in puncto Architektur oder bei kleinen Freskofragmenten, die die Jahrhunderte überlebt haben. Prunkstück ist die Kirche San Francesco, in der sich die strenge byzantinische Struktur ein unerwartetes Stilgefecht mit dem farbenfrohen barocken Marmoraltar aus dem 17. Jhd. liefert.
Weiter geht es für mich vorbei an Bars, Restaurants und hübschen kleinen Läden, die die Straßen säumen, darunter die traditionelle Weberei Aracne. Hier erwecken Frauen aus dem Ort seit einigen Jahren die traditionelle Webkunst wieder zum Leben. Wie vor Jahrhunderten werden Spindeln gewickelt und Fäden gezählt. Die Muster notieren sie auf einer Art Notenblatt, denn sie werden erst gesungen und dann aufgeschrieben. Heute kann die kleine Weberei eine eigene Kollektion vorweisen, die man auch online bestellen kann.
Wenige Meter weiter gibt es Naturseifen aus der Bergamotten-Frucht, die aus der Landschaft und der Küche dieses Landstrichs nicht wegzudenken ist. Genau wie der Jasmin, der dem Küstenabschnitt seinen Namen gegeben hat.
Raus aus der Stadt, rein ins herrliche Landschaftsidyll
Durch das Stadttor „Porta dei Vescovi” – dem Tor der Bischöfe – habe ich Gerace betreten. Ich verlasse das Dorf durch das Stadttor „Porta del Sole”, das Sonnentor. Der Blick öffnet sich nach Osten auf das Ionische Meer. Von Gerace aus führt mich die Straße nun direkt hinauf zum Aspromonte – bis zu den 1980er Jahren ein gefürchtetes Wort, das man hinter vorgehaltener Hand aussprach, denn hier trieb die Mafia, genauer gesagt die „Ndrangheta”, ihr Unwesen. Als eingeheiratete Deutsche kann ich mich noch gut an die vielsagenden Blicke meiner toskanischen Schwiegereltern erinnern, wenn in den italienischen Nachrichten der Name fiel.
Heute ist der Aspromonte ein waschechtes Idyll, das seit 1989 Nationalpark und seit 2017 Anwärter als „UNESCO Global Geopark” ist. Durch dichte Wälder mit Teppichen aus Alpenveilchen ziehen sich Wander- und Radwege. Familienbetriebene Agriturismi laden zum Übernachten in der frischen Bergluft ein, wenn die Orte am Meer wochenlang in der Sommerhitze glühen.
Kulinarische Hochgenüsse & magische Kräfte
Und auch kulinarisch hat diese Gegend eine Menge zu bieten. Sogar so viel, dass das Essen eigentlich einen eigenen Artikel verdient hätte. Ein Großteil des Lebens und der Aktivitäten der Einheimischen dreht sich um die Herstellung überaus leckerer Spezialitäten. Die Gegend des Aspromonte ist mit Schaf- und Ziegenhaltungen eher fleischlastig, doch auch Vegetarier kommen mit den vielen Gemüsesorten hier auf ihre Kosten.
Die berühmte scharfe Rohwurst ‘Nduja findet sich auch in den Käsesorten und Saucen zu Pasta Fileja und Struncatura. Allgegenwärtig sind die kleinen scharfen Peperoncini, die sehr malerisch an den Häusern hängen. Sie sind als Talismane gegen böse magische Kräfte beliebt. Übrigens: Peperoncini-Marmelade ist ein Hochgenuss. Und natürlich fehlen hier weder marinierte Oliven, Käse, Obstliköre und beste Weine.
Mein Fazit & meine Hoteltipps
Selten hat mich in den letzten Jahren ein Gebiet so schnell verzaubert und von seinem Wert für die Allgemeinheit überzeugt, wie das Dorf Gerace und seine wunderschöne Umgebung. Den Geracesi bleibt nun die Aufgabe, ihre Heimat ganz im Sinne eines nachhaltigen Tourismus’ kontrolliert einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, ohne an Authentizität einzubüßen.
Wer Gerace auf eigene Faust entdecken möchte, dem empfehle ich, Logie beim Capo Vaticano oder in Tropea an der tyrrhenischen Küste zu beziehen. Besonders schön sind die Hotels „Borgo Donna Canfora”, „Blue Bay Resort”, „Baia del Godano Resort & Spa”, „Labranda Rocca Nettuno”, „Falkensteiner Club Funimation Garden Calabria” und natürlich auch der „Agriturismo Tenuta Ruralia”. Von Gerace trennen einen hier ca. 80 bis 90 Kilometer, die man über eine gut ausgebaute Schnellstraße entspannt mit dem Mietwagen in rund einer Stunde zurücklegen kann.
Ich danke der „Associazione borghi d’Italia” für die Einladung und die unvergessliche Zeit in Kalabriens ursprünglichem Osten.