Es geht weiter mit meiner Reise durch die „guten, alten Zeiten“. Auf meiner Tour durch Portugal mache ich diesmal halt in Lissabon. Was hat sich in 35 Jahren verändert? Vieles!
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Lissabon: Hipster in der Pinkstreet
18 Uhr im „Café Nicola“ am Rossio-Platz. In Lissabons ältestem Kaffeehaus treffe ich mich mit Sónia, einer alten Freundin, die aus Madeira stammt und die ich vor 25 Jahren als Erasmus-Student an der Uni Lissabon kennengelernt hatte. Sónia ist 47, arbeitet in der Kulturszene, skypt morgens mit London und abends mit São Paulo. Im Nicola wollte sie sich eigentlich nicht mit mir treffen, „zu touristisch“, sagt sie. Trotzdem trinken wir auf der Terrasse ein „Imperial“, wie ein kleines Fassbier in Lissabon genannt wird.
Wir überblicken den Platz mit den symmetrischen Häuserzeilen aus der Zeit nach dem Erdbeben von 1755. An jeder Ecke parken Tuk-Tuks, die Fahrer hängen am Smartphone und warten auf Kundschaft. „Inzwischen tun sie mir leid. Drei Monate Lockdown, und jetzt nicht einmal halb so viel Geschäft“, sagt Sónia. Ihr Mitgefühl wirkt echt, obwohl sie als Aktivistin von „Lisboa Does Not Love“ gegen die sieben Todsünden des Overtourism kämpft. Neben Tuks-Tuks sind das: Go-Cars und Segways, Ferienwohnungen, große Gruppen, Kreuzfahrtschiffe, Souvenirshops und Junggesellen-Abschiede.
Sónia ist keine Touristen-Hasserin, aber sie will, dass Lissabon seine Seele nicht verliert. Als ich sie vor fünf Jahren zum letzten Mal getroffen hatte, wohnte sie im Stadtteil Graça in der Nähe vom Castelo São Jorge. Dann stieg die Miete in schwindelerregende Höhen, die wöchentlich wechselnden Nachbarn und das Rattern der Rollkoffer wurden immer unerträglicher. Vor einem Jahr zog sie in den Vorort Seixal am anderen Ufer des Tejo. Ihr früheres Zuhause in Graça ist jetzt eine von 18.000 Ferienwohnungen, die es offiziell in Lissabons Innenstadt gibt. „100.000 Betten, in einer Stadt mit 500.000 Einwohnern, 50.000 Einwohner weniger als vor zehn Jahren“, rechnet Sónia vor.
Vom Nicola bummeln wir durch den Chiado ins Bairro Alto. Die Fassaden leuchten himmelblau, ockergelb, altrosa. In meiner Erasmus-Zeit waren die meisten Häuser hier ziemlich runtergekommen, was mir ungemein gefiel, denn es passte so schön zum Fado und zu Fernando Pessoa, der so wunderbare Verse schrieb wie „Wenn das Herz denken könnte, würde es still stehen“, 1935 an einer Zirrhose starb und als bedeutendster portugiesischer Dichter der Moderne im Hieronymus-Kloster begraben liegt.
Am Praça Luís de Camões steigen wir in die Straßenbahn 28. Ein Triebwagen Marke „Metropolitan-Vickers“, Baujahr 1936, bis auf den letzten Platz besetzt. Es wird Französisch, Englisch, Spanisch und Deutsch gesprochen, durch die geöffneten Guillotine-Fenster fotografiert und gefilmt. Die Fahrerin gibt Gas, wir werden ordentlich durchgeschüttelt und halten uns an den ledernen Haltelaschen fest. Echtes Lissabon-Feeling. Sónia ist genervt. Sie hat Recht: Wir hätten auch locker zu Fuß laufen können, denn schon nach drei Stationen steigen wir wieder aus. Am Aussichtspunkt Miradouro de Santa Catarina, der an einer Seite von einem noblen Palast gesäumt wird, schauen wir auf den Tejo und die rote Hängebrücke.
Sónia ist Kommunikationswissenschaftlerin mit Master-Abschluss und in der Kulturszene bestens verknüpft. Sie berichtet von neuen „Creative Hubs“, die in Xábregas und Marvila wie Pilze aus dem Boden schießen. Ehemalige Industrieviertel, die ich nur vom Hörensagen kenne, die sie mir aber für den nächsten Tag ans Herz legt, ebenso wie das MAAT (Museum für Kunst, Architektur und Technologie), eine wellenförmige Gebäudeskulptur am Ufer in Belém, ein Werk der britischen Architektin Amanda Levete.
Die Sonne geht hinter der Hängebrücke unter. Erst jetzt fällt mir auf, dass der Stadtpalast ein Hotel ist. „Die Rooftop-Bar ist geil“, sagt Sónia und kurz darauf bestaunen wir auf der Dachterrasse das Abendrot. Der Barmann berichtet, dass die Top-Location erst seit kurzem ein Hotel sei, davor wären hier Filme gedreht worden. „Nachtzug nach Lissabon mit Jeremy Irons“ ergänzt Sónia. Anschließend laufen wir im warmen Licht alter Laternen treppab ins Viertel Santos mit der Markthalle Mercado da Ribeira, die jetzt „Time Out Market Lisboa“ heißt. In einer Seitenstraße kehren wir zum Abendessen ein.
Sónia berichtet von ihrer Arbeit im „Lisbon International Music Network“, von stornierten Reisen nach Berlin und Barcelona, von Meetings, die jetzt online stattfinden. Ich frage sie nach ihrem neuen Wohnort Seixal, wo ich noch nie war. „Gar nicht so schlecht“, antwortet Sónia. Es gibt Fahrradwege am Tejo, sie wohnt im sechsten Stock und kann 8 km über die Bucht hinweg nach Lissabon blicken, und abends herrscht Ruhe. Für den Absacker schlage ich die „British Bar“ vor, wo eine Wanduhr seit Jahrzehnten rückwärts läuft. „Der Laden hat um die Zeit nicht mehr auf“, sagt Sónia. „Nichts ist mehr wie früher“, jammere ich. „Quatsch“, sagt Sónia und schubst mich in die Rua Nova do Carvalho. In dieser engen Straße torkelten früher Matrosen durch bonbonfarbenes Neonlicht, vor Läden wie „Boite Las Vegas“ und „Jamaica“ winkten schnauzbärtige Türsteher und korpulente Animierdamen.
Die Straße ist inzwischen als „Pink Street“ bekannt, der Asphalt rosarot und statt zwielichtiger Gestalten sind hier jetzt die Hipster unterwegs. Sónia schleift mich in die „Pensão Amor“, ein plüschiges Etablissement mit kirschroten Wänden, das mir bekannt vorkommt, obwohl ich schwöre, nie dort gewesen zu sein. Sónia lacht und trinkt ihren Cocktail ziemlich schnell aus. Sie hat es eilig. Ich begleite sie zum Cais do Sodré, wo um Mitternacht die letzte Fähre nach Seixal absetzt. „Beijinho“, sagt sie, und wirft mir einen Handkuss zu, bevor sie im Terminal verschwindet.
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