Das Jahr 2022 ist für Bilbao ein ganz besonderes: Das Guggenheim Museum, Frank Gehrys schillernder Riesenfisch, feiert sein 25-jähriges Bestehen! Im Schlepptau des Museo Guggenheim Bilbao haben Stararchitekten, Künstler*innen, Designer*innen und Starköche die Stadt in einen Hotspot der Kultur und Kulinarik verwandelt.
Der visuelle Genuss beginnt bereits beim Landeanflug auf den Airport von Bilbao: Eingebettet in bewaldete Berge und saftige Wiesen, erstreckt sich sein schneeweißes, stromlinienförmiges Terminal. Das spitze Dach erinnert an ein Segel, den Flügelschlag eines Kranichs. Nordspaniens größter Flughafen trägt die unverwechselbare Handschrift von Santiago Calatrava: dynamisch, elegant, expressiv. Ein Flughafen der kurzen Wege, durchflutet von natürlichem Licht, mit kathedralhaft hohen Decken, getragen von schwungvollen Pfeilern und Bögen aus Stahlbeton.
Bilbao und sein Meisterwerk: Das Guggenheim Museum fasziniert schon aus der Ferne
Keine zwanzig Minuten nach Landung und Gepäckübernahme steigt man ins Taxi oder in den lindgrünen Bizkaibus mit Hybridantrieb, der einen für drei Euro flink ins Herz der Stadt befördert. Kurz vor dem Ziel ein langer Tunnel, am Ende der Röhre beginnt die Show: Auf der Brücke La Selva geht es durch einen postmodernen Triumphbogen über den Fluss Ría de Nervión. Zum Greifen nah schillert und glitzert am Ufer das Guggenheim-Museum. Die Flosse des riesigen Titan-Fischs schlägt fast ans Geländer der Brücke.
Entgegen den ursprünglichen Plänen, das abgetakelte Lagerhaus Alhondiga umzubauen, setzte Gehry auf das Ufer der Ría, um für sein skulpturales Großwerk eine von allen Seiten sichtbare Bühne zu schaffen. Die Bauarbeiten begannen 1993. Parallel dazu entsteht die Linie 1 der Metro Bilbao. Der Brite Norman Foster, Pritzker-Preisträger 1999, konzipierte die U-Bahnhöfe mit transparenten Rolltreppeneingängen. Abends leuchten sie wie Glühwürmchen, von den Bürgern Fosteritos genannt.
Die U-Bahn ging 1995 in Betrieb, zwei Jahre später wurde das Museo Guggenheim de Bilbao von König Juan Carlos eingeweiht. Auf der Eröffnungsgala bestaunten 800 Gäste das exzentrische Bauwerk, das eine wahre und dringend benötigte positive Zeitenwende in der Geschichtsschreibung Bilbaos markiert.
Bilbao vor dem Bau des Guggenheim Museums: die Flucht nach vorn
Nach vielen harten Jahren, die vom Niedergang der Industrie, von Massenarbeitslosigkeit, Straßenschlachten, ETA-Bomben und dem Ausbleiben der Touristen geprägt waren, vermieste im Hochsommer 1983 auch noch eine Woche Dauerregen das Volksfest Semana Grande. Am 26. August trat die Ría de Nervión über die Ufer. Die braune Brühe des damals stark kontaminierten Fjords flutete die Altstadt und Industrieanlagen. Die Werft Euskaduna, in der einst bis zu 20.000 Arbeiter schufteten, machte 1988 dicht. Jetzt blieb Bilbao nur noch die Flucht nach vorn.
1991 und 1992 kommt die Stadt für rund 100 Millionen U.S.-Dollar mit der New Yorker Guggenheim-Stiftung ins Geschäft. Den Wettbewerb gewinnt Frank Gehry (das O. zwischen dem Vor- und Nachnamen ist nicht verpflichtend). Der Pritzker-Preisträger 1988 war bereits ein anerkannter Meister des Dekonstruktivismus.
Ein verwirrend-faszinierendes Labyrinth
Von außen erinnert das Bilbao Guggenheim Museum je nach Standpunkt, Lichtverhältnissen und individueller Fantasie an ein zerborstenes Schiff, einen Riesenfisch, ein Ufo, eine Achterbahn. Oder vielleicht eine Artischocke? Ecken und Geraden scheinen nicht zu existieren, alles ist ineinander verschachtelt, fließt zusammen oder auseinander.
Gehrys Dekonstruktivismus ist eine Herausforderung an die Schwerkraft, nicht nur außen, auch innen: Ausgehend vom 50 Meter hohen Atrium, bewegt man sich durch ein verwirrend-faszinierendes Labyrinth mit drei Ebenen und 20 Ausstellungsräumen. In der größten Halle (130x30m) hat Richard Serras gigantische Skulptur The Matter of Time Platz. Überall kurvige Gänge, versteckte Nischen, gewölbte Decken und Wände. Bei diesem Tanz der fließenden Formen und Volumina kann einem schon mal schwindlig werden. William Dafoe schreibt 2005 ins Gästebuch: „I’m dizzy! Dizzy-Dizzy!“
Kunst aus der Nebelkanone
Um die Gebäude-Skulptur führt ein zwei Kilometer langer Parcours aus Gehwegen, Treppen und Rampen. Vor dem Haupteingang grüßt Puppy: Die zwölf Meter hohe Hündchen-Skulptur von Jeff Koons ist ein vertikaler Garten mit Tausenden von Blumen. Gar nicht niedlich ist Maman von Louise Bourgeoise, eine neun Meter hohe Spinne aus Bronze und Metall.
Auf der Mole, fast unterhalb der Brücke La Selva, steigen zu jeder vollen Stunde Nebelschwaden auf. Die wabernde Konzeptkunst (Fog Sculpture #08025 F.O.G), ersonnen von Fujiko Nakaya, umhüllt das Museum und verwandelt die Passanten in Gespenster. Nach Einbruch der Dunkelheit brennen Feuerfontänen von Yves Klein über dem Wasser, leuchten die Titanplatten wie flüssiges Gold.
Kulturelle und kulinarische Sternstunden
Natürlich darf an diesem kreativen Brennpunkt ein Sterne-Restaurant nicht fehlen, schließlich sind wir im Baskenland, Spaniens Region mit der höchsten Dichte an Gourmet-Restaurants (24 Lokale, 34 Sterne). Im Nerua Guggenheim Bilbao zelebriert der Chef Josean Alija eine lokale Fusionsküche, inspiriert vom Zusammenfluss von Süß- und Salzwasser im Fjord, den man beim Schlemmen im Blick hat.
Die frischen Produkte aus dem Meer, vom Acker und von der Weide werden in minutiös komponierten Degustationsmenüs visuell in Szene gesetzt wie Kunstwerke. Das Nerua ist eines von sechs Sterne-Restaurants in der Stadt. Aber nicht nur in den Gourmet-Tempeln ist das Essen hervorragend: Die baskische Küche schmeckt auch in Restaurants ohne Stern und in den Pintxos-Bars. Die besten findet man im Ensanche und in den Siete Calles, dem Kern der mittelalterlichen Altstadt, der immer einen Abstecher wert ist!
Bilbao ist auch abseits vom Guggenheim Museum eine Reise wert
Schnurgerade führt die Gran Vía Don Diego Lopez de Haro ins Herz von Bilbao. Die Plaza Moyúa wird vom Hotel Carlton flaniert: Baujahr 1926, makellos weiße Beaux Artes-Fassade. Schräg gegenüber protzt der Palacio Chávarri (1888) mit Giebeln, Erkern und Türmchen. Von hier aus fließt die Gran Vía als anderthalb Kilometer lange Arterie durch das gutbürgerliche Viertel Ensanche.
Der Boulevard und die von der Plaza Moyúa sternförmig ausgehenden Alleen werden von repräsentativen Bauten der Belle Époque, des Jugendstils und der Art Déco gesäumt. In einem schlossartigen Palast residiert die Verwaltung der Provinz, deren Hauptstadt Bilbao ist. Dank Tempo 30, extrabreiter Gehwege und altem Baumbestand flaniert man entspannt durch ein Freiluftmuseum der eklektizistischen Architektur: Bankzentralen im Stil antiker Tempel, bourgeoise Residenzen mit verglasten Balkonen, Wohn- und Ballhäuser mit floralen Art-Nouveau-Fassaden (Casa Montero, Teatro Campos Eliseos).
Patina, Pintxos und Primark
Auf Schaufenster-Höhe glitzern Guess, Michael Kors und Tous. Dazwischen halten alteingesessene Maßschneider und Juweliergeschäfte die Stellung. Wo Zara, Mango und Primark auf dem Vormarsch sind, steht das Café Iruña wie ein Fels in der Brandung. Anno 1903. Maurische Lampen tauchen die in Separees aufgeteilten Räumlichkeiten in warmes Licht. Matte Wandspiegel, andalusische Fliesen, Alhambra-Säulen, Decken mit handbemalten Holzkassetten. Dreißig Marmortische werden von würdevollen Kellnern bedient.
Mit Fliege und Weste kredenzen sie hauchzarten Pata-Negra-Schinken, würzige Lammspießchen und Txakoli-Wein. Der u-förmige Tresen ist mit Pintxos drapiert: mundgerechte Häppchen Tortilla, Chorizo, Käse oder Fisch auf Weißbrot, garniert mit Oliven, Paprika und Salsa Rosa, aufgespießt am Zahnstocher. Pintxos sind die baskische Version der Tapas und das Café Iruña ist ein Hort der Tradition.
Die altehrwürdigen Gebäude und das Ensanche selbst sind Symbole der industriellen Blütezeit Bilbaos, die um 1870 begann und auf Eisen, Stahl, Schiffsbau beruhte. Aus dem Jahr 1893 stammt die Puente Vizkaya, die älteste Schwebefähre-Brücke der Welt, die sich als 160 Meter lange Eisenkonstruktion über die Flussmündung spannt. Von der 45 Meter hohen Fußgänger-Plattform hängen Stahlseile mit einer Transportbarke für Pkws und Fußgänger. In ihr schwebt man wenige Meter über dem Wasser und gelangt vom Vorort Portugalete nach Arenal und vice versa, wo im Angesicht stolzer Fabrikantenvillen der britische Einfluss auf Schritt und Tritt zu spüren ist.
Das Bilbao Guggenheim Museum als Magnet für internationale Star-Architekten
Angespornt vom Höhenflug des Guggenheim Museums, das im Rekordjahr 2019 1,7 Million Besucher zählte, haben Star-Architekten aus dem In- und Ausland die 350.000-Einwohner-Stadt in einen Showroom der zeitgenössischen Baukunst verwandelt. In einem Radius von fünf Kilometern bietet sich die Gelegenheit, die stilistisch vollkommen unterschiedlichen Werke und Visionen von sieben Pritzker-Preisträgern zu betrachten.
Die Lobby im Gran Hotel Domine trägt die Handschrift von Javier Mariscal. Auf dem Gelände der früheren Werft musiziert das Bilbao Symphony Orchestra im Konzert- und Kongresszentrum Euskalduna, zum Guggenheim-Jubiläum tritt Altmeister James Taylor („Country Road“) auf. Philipp Starck verwandelte das Lagerhaus Alhondiga, das Gehry ad acta gelegt hatte, in ein Produktionszentrum zeitgenössischer Kultur. Im 2010 eröffneten Azkuna Zentro entwickeln und präsentieren Designer, Maler, Tänzer, Choreographen und Filmemacher ihre Projekte. Ein Besuchermagnet ist das Atrium mit 43 Säulen aus Marmor, Holz, Bronze, Zement und Stahl – jede einzelne Säule hat eine andere Form, symbolisiert verschiedene Epochen und Zivilisationen.
Mit sechs gläsernen Aufzügen ins Freie
Im gleichen Jahr öffnete sich der Vorhang für den mit grünen Rhomben aus Aluminium verkleideten Sport- und Konzertpalast Bilbao Arena. Er ist das Wahrzeichen im neuen Viertel Miribilla 2,5 km südlich vom Guggenheim und mit der S-Bahn schnell zu erreichen.
Die Station liegt 50 Meter unter der Erde, sechs gläserne Panorama-Aufzüge führen ins Freie, wo es zwei weitere Architektur-Hingucker zu entdecken gibt: die Iglesia Santa Maria Josefa mit einem transparenten Kirchturm und der Frontón Bizkaia, ein schwarzer Monolith, in dem der baskische Nationalsport Pelota Vasca beheimatet ist.
Bilbao und der Guggenheim-Effekt: Die Entstehung eines neuen Viertels
Der vielbeschworene Guggenheim-Effekt als Paradigma für den Relaunch einer ganzen Stadt: Dass er in Bilbao auch 25 Jahre später noch nicht verpufft ist, zeigt der ambitionierte Masterplan Zorrotzaurre von Zaha Hadid. Vis-a-vis zum fotogenen San Mamés-Stadion von Athletic Bilbao entsteht auf einer Flussinsel ein Modell-Viertel des 21. Jahrhunderts.
Auf 80 Hektar ehemaliger Industriefläche setzt das Projekt auf Nachhaltigkeit und einen smarten Mix aus Wohnen und Arbeiten. Frisch fertiggestellt ist die kilometerlange Fußgänger- und Radpromenade am Fluss. Die ersten Smarties sind bereits auf die Insel der Glückseligen gezogen.
Zoff um Zubizuri
Der Guggenheim-Effekt hält an, es bestehen gute Chancen auf Erfolg. Jedoch kann man auch in Bilbao ein Lied davon singen, dass geniale Architekten-Ideen nicht immer den Realitätscheck bestehen. Im Jahr Null der neuen Zeitrechnung Bilbaos wurde die Fußgängerbrücke Zubizuri eingeweiht: eine grazile Bogen-Konstruktion aus weiß lackiertem Stahl mit Glasboden, durch die man aufs Wasser blickt.
Effektvoll beleuchtet, ist die Zubizuri abends besonders schön. Jedoch stellte sich die gläserne Passerelle bei durchschnittlich 128 Regentagen im Jahr als glitschiges Ärgernis heraus. Die Lösung? Anti-Rutsch-Bänder. Unästhetisch, fand der Architekt, ein weltberühmter Vertreter seiner Zunft. Die Stadt musste auf eigene Kosten nachbessern.
Noch weniger gefiel dem aus dem sonnigen Valencia stammenden Baumeister eine nachträglich gebaute Zugangsrampe zum Hochhaus-Ensemble von Isozaki Atea. Der Stararchitekt klagte und kassierte eine Entschädigung. Anfang 2022 musste das defekte Beleuchtungssystem ausgetauscht werden. Preisfrage: Welcher Architekt hat die Zubizuri-Brücke in Bilbao entworfen?